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Mrz 11

Grammatik für Zeitreisende

Aus der Rubrik „Frag Nika“

 

Dr. Ocke fragt:

Sehr geehrte Nika,

vorab erst einmal vielen Dank für diese wunderbare Sammlung nützlicher Tipps, amüsanter Anekdoten und aufschlussreicher Meinungen. Auch bin ich erfreut, an dieser Stelle derart viel Prominenz versammelt zu sehen. Da möchte ich nur 2 Beispiele nennen: Dragan Guttenberg (mein „Dr.“ ist von gänzlich anderem Ursprung) und der wohlbekannte Künstler Nashville Cherry.

Seinerzeit wurde mein Wikipediabeitrag zu Herrn Cherry gnadenlos gelöscht. Zwar wurde „Irrelevanz“ als Grund vorgeschoben, jedoch bin ich davon überzeugt, dass es sich um einen Mißgünstigen handelte, der auch weiterhin dafür sorgen wollte, dass Nashville Cherry in seinem selbstauferlegten Exil verharrte. Doch da uns wohl allen bekannt ist, als welch heller Stern dieses Ausnahmetalent bereits in wenigen Jahren den Nachthimmel der Post-Internetkultur erleuchten wird, sah ich von weiteren Diskussionen ab… doch ich schweife ab vom eigentlichen Anliegen meines Beitrages.

Ich habe eine Frage zum Thema „Zeitreise und Kultur“. Bereits im ausklingenden 16. Jahrhundert war eine starke Veränderung der deutschen Sprache zugunsten des Französischen erkennbar. Im vergangen Jahrhundert und bis ins aktuelle Jahrtausend hinein werden wir stark vom Englischen beeinflusst. Man mag diese Tendenzen mit Wohlwollen betrachten oder aufs Schärfste verurteilen, über eines kann an dieser Stelle nicht hinweg gesehen werden: all diesen Sprachen mangelt es an Grammatik! (Wobei anzumerken ist, dass die Grammatik ohnehin durch Erweiterungen der eigenen Sprache mittels Übernahme des Wortschatzes anderer Sprachen selten positiv beeinflusst oder gar erweitert wurde).

Wie dem auch sei, in jedem Fall leiden wir unter einem beklagenswerten Mangel an Zeitformen. An einigen Stellen kann man sich eventuell mit bestehenden Zeitformen behelfen. Etwa bietet sich das Futur II an, wenn ein Ereignis, welches ich in der Zukunft beschreiben werde, dann in der Vergangenheit liegt. Aber uns Zeitreisenden sind ja viele Möglichkeiten bewusst, bei denen diese Regeln versagen. Und das selbst schon bei einfachsten Kombinationen. Genannt sei hier zum Beispiel eine Handlung, die in der Vergangenheit bereits geschehen, für mich aber noch Zukunft ist, da ich die Vergangenheit erst in Kürze bereisen werde. Wenn diese Handlung dann noch Auswirkung auf die Vorvergangenheit hat, wird selbst ein geneigter Leser ohne eigene temponautische Erfahrungen an die Grenzen seiner Vorstellungskraft geführt. Die Grammatik jedoch hat dann bereits sämtliche bekannten Grenzen verlassen und liegt in Scherben.

Nichtsdestotrotz bin ich stets bemüht mich eindeutig zu artikulieren und dies in der gebotenen Form zu tun. Und ich bin nicht allein! Doch wie helfen sich andere Temponauten über dieses Manko hinweg? Gibt es evtl. ein universelles Standardwerk zu diesem Thema (ISBN würde mir reichen)? Gibt es eventuell eine (für Menschen mit gewöhnlichen Spracheigenschaften erlernbare) Sprache, die diese Zeitformen beinhaltet? Oder finden sich Mitstreiter, die meinen Kampf für eine universellere Sprache unterstützen und entsprechende Formen zu entwickeln bereit sind? Bisher habe ich in der Zukunft jedoch keinen Hinweis auf eine erfolgreiche Entwicklung dieser Art finden können.

Vielen Dank für Ihre Unterstützung,

Herzlichst Dr. Ocke

(Antwort auf der nächsten Seite)

Nika antwortet:

Sehr geehrter Dr. Ocke,

ausnahmsweise möchte ich Ihre Anfrage auf der Titelseite veröffentlichen, da die Antwort von allgemeinem Interesse sein dürfte. Sie sprechen hier ein wichtiges Thema an, das bereits Douglas Adams beschäftigte, als er schrieb: „Das Problem der Zeitreisen ist in erster Linie eines der Grammatik.“

Nun, Sprache entwickelt sich weiter, und die Menschen haben es seit jeher verstanden, ihre Sprache neuen Gegebenheiten anzupassen, oftmals unter Berücksichtigung optischer oder akustischer Eindrücke. Auch in der Grammatik hat man Fortschritte gemacht, da es – wie Sie ja bereits trefflich bemerkten – notwendig war, für den Sprachgebrauch der Zeitreisenden Tempora zu entwickeln, die diesem Umfeld gerecht werden.

So hat eine Expertengruppe der Zeitreisekommission bereits im Jahr 2497 im Rahmen der Konferenz für „Universelle Sprachnormung bei Zeitreisen“ das Futur III und Futur IV ins Leben gerufen. Aufgrund der vielen existierenden Paralleluniversen hat man aber auch noch eine völlig neue Zeitform entwickelt: das Pretum I bis unendlich. Je nachdem wie viele Paralleluniversen man weiter reist, hängt man einfach immer noch ein Suffix mehr an das Verb. Ich will Sie jetzt aber nicht mit den Details langweilen…

Natürlich gibt es dazu auch Fachliteratur, die jedoch sehr gefragt ist, z.B. „Tempora für Temponauten – grammatikalische Expansion in der vierten Dimension“ oder „Dysgrammatismus im Multiversum“. Die Bücher erscheinen zeitgleich mit der Einführung der neuen Zeitformen im Handel. Bereits 3026 sind aber schon alle Exemplare vergriffen, so dass sie nur noch antiquarisch bzw. in der Bibliothek am Ende des Universums erhältlich sind (gegenüber vom Restaurant).

Diese Bücher sind aber eigentlich nur für Linguisten von Bedeutung, da die Sprachregelung lediglich in den westlichen Teilen dieses Universums zum Tragen kommt. Das Russische konnte sich aufgrund der bereits jetzt sehr komplizierten Grammatik auch nicht langfristig durchsetzen, so dass man hier darauf verzichtet hat, zu den 6 Fällen auch noch die 16 neuen Zeiten einzuführen, sondern die Sprache im Jahr 2874 durch Mashperanto ersetzt hat (eine Weiterentwicklung des heutigen Esperanto).

Grundkenntnisse in Indonesisch hingegen können für Zeitreisende von Vorteil sein, da es in dieser Sprache selbst im 21. Jahrhundert kaum Grammatik gibt und die Indonesier sich trotzdem gut verstehen. So gibt es im Indonesischen keine Deklination, keine Konjugation der Verben, keine Tempora und kein grammatisches Geschlecht. Ähnlich wie Temponauten leben die Indonesier in einer Art Zeitschleife, so dass das „Komm ich heut‘ nicht, komm ich morgen“ sich bereits in der Sprache niedergeschlagen hat. In mediterranen Ländern wie Spanien und Italien gibt es ein Pendant: das „Jetzt“, welches von „sofort“ über „gleich“ bis hinzu „irgendwann“ so ziemlich alles bedeuten kann.

Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung und der damit verbundenen Bildung multiethnischer Gemeinschaften, gilt es als höflicher, weniger Grammatik einzusetzen, je weiter man in der Zeit reist (egal ob vorwärts, rückwärts oder seitwärts). Man kann diese Tendenz zum Ethnolekt heute schon bei fortschrittlichen Jugendlichen in den Berliner Bezirken Wedding, Kreuzberg oder Neukölln beobachten. Oftmals benutzt man hier nur noch die Grundform des Verbs. „Du Opfer! Yalla, wir gehen Cafeteria!“ bedeutet zum Beispiel „Hättest Du Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?“. Manche Redewendungen sind aber nicht so leicht zu durchschauen – da muss man etwas Abstraktionsvermögen mitbringen.

Wenn jemand das Gespräch mit den Worten „Du Hurensohn, isch fick Deine Mutta!“ eröffnet, ist dies nicht wörtlich zu verstehen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Sozialisationsritual. Am besten antworten Sie darauf höflich „Wenn du nisch abhaust, Lan, machisch disch Messa, Alta! Ischwör!“. Ihr Gegenüber wird dann vermutlich als Zeichen seiner Anerkennung auf den Gehsteig spucken und für einen Moment verschwinden, um Ihnen kurze Zeit später seine 20 Brüder vorzustellen. Gehen Sie jetzt lieber – Familientreffen dieser Art können anstrengend werden, wenn man sich nicht richtig verständigen kann.

Hier aber eine kleine Demonstration von den Pussycat Prolls feat. Fifty Sven zum Üben des korrekten Sprachgebrauchs. Und etwas Literatur: „Murat und Aische“, welches Ihnen in seiner Urfassung als „Hänsel und Gretel“ von den Gebrüdern Grimm sicherlich geläufig ist.

♦♦♦♦♦

Murat und Aische gehen dursch Wald, auf Suche nach korrekte Feuerholz.
Aische fragt Murat: „Hast Du Kettensäge, Murat?“
Murat: „Normal! Hab isch in meine Tasche, oder was!?“
Auf der Suche nach korrekte Baum, verirren sie sisch krass in de Wald.
Murat: „Ey scheissse, oder was!? Hast du konkrete Plan, wo wir sind, oder was!?“
Aische: „Ne scheissse, aber isch riesche Dönerbude!“
Murat: „Ja faaaatt!“
Aische: „Normal, da vorn an den Ecke!“

So fanden schliesslich dursch Aisches korrekte siebte Döner-Such-Sinn den Dönerbude. Sie probierten von jede Döner. Plotzlich kamm voll dem krasse Frau und fragt: „Was geht, warum beisst ihr in meine Haus?“

Als Strafe sperrte dem Hexe Murat in krass stabilen Käfig. Zu Aische sagte sie: „Du Frau, du kochen für misch! Und verkaufen Döner an den Theke.“
Murat wurde gemastet bis korrekt fett fur Essen. Doch ein Tag hatte Aische einen fixe Idee.
Sie fragte: „Wie geht den mit den Dönerbrotofen?“
Hexe: “Was geht? Bist du scheissse im Kopf , oder was?”
Aische: “Normal, isch hab kein Plan, zeigen mal, wie geht!”
Hexe: “Machen das! Komm her und mach den Augen auf!”
Aische: “Korrreckt!”

Dem Hexe bückte sisch, um den Dönerofen anzuschmeissen. In den Augenblick Aische kickte mit korrekten Kick-Box-Kick in die fette Arsch. Dem Hexe sagte: “AAAhh, scheissse, was geht? Isch fall direkt in die Scheisendreckofen. Oder was! Aah isch hab krasse Schmerzen!”

Aische freute sisch und sagte: “Korrekt, den Alte ist konkret tot!”
Murat: “Ey, Aische, krasse Idee! Hol misch aus die scheisss Kafig, Alde!”
Aische: “Normal, oder was!?”

♦♦♦♦♦

Weitere moderne Märchen finden Sie in diesem Band (Auszüge daraus hier).

Im Jahr 3456 gelten übrigens die Aborigines als die am höchten entwickelte Kultur der Jetztzeit, da sie sich rein telepathisch verständigen können. Aber in erster Linie dient Sprache ja der Kommunikation und sollte für jedermann anwendbar sein. Deshalb gibt es für all jene Temponauten, die keine Sprachwissenschaftler sind und auch die Telepathie nicht beherrschen, ein praktisches Universalwörterbuch, das ganz ohne Grammatik auskommt.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit dieser Ausführung weiterhelfen.

Mit freundlichen Grüßen,

Nika

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