Die Erklärung
Nach einer kurzen Pause begann die Assistentin mit etwas zögernder Stimme zu sprechen. Sie erzählte mir, dass es seit den Fünfziger Jahren Versuche gab, Menschen in flüssigem Stickstoff zu konservieren. Die Anfänge reichten bis in die Zeit des Korea-Krieges zurück. Es wurde versucht, verwundete Soldaten in tief gefrorenem Zustand in die USA auszufliegen, um sie dort besser behandeln zu können. Bei diesen Versuchen stellte man fest, dass es zu einer starken Verlangsamung der Zellteilung kam.
In den Sechziger Jahren war man mit dieser Technologie dann so weit voran gekommen, dass man sich entschloss, einen Langzeitversuch zu unternehmen und Menschen für Jahrzehnte einzufrieren. Dieses Geheimprojekt wurde in mehreren Ländern, unter anderem auch in der Bundesrepublik, durchgeführt. Man suchte unter strengster Geheimhaltung Freiwillige – ausschließlich Jugendliche und junge Erwachsene – aus, die sich an diesem Projekt beteiligen wollten.
Meist waren es Einzelgänger, deren Verschwinden leicht vertuscht werden konnte. Diese Jugendlichen nahmen aus reiner Abenteuerlust an diesem Experiment teil. Sie wollten wissen, ob es in 40 Jahren fliegende Autos gibt. Sie träumten von kleinen, tragbaren Funktelefonen mit integriertem Minifernseher. Sie wollten einfach in die Zukunft reisen.
Die Forscher wiederum waren interessiert zu erfahren, wie sich die Probanden in einer Zeit zurechtfinden, in der sich die Technik und die Gesellschaft erwartungsgemäß weiter entwickelt hätten. Wären die Probanden in der Lage, sich den neuen Bedingungen anzupassen?
Ich war schockiert, als ich ihr Geständnis hörte, hatte aber noch die Kraft zu fragen, wie sich diese Jugendlichen denn nun in der Gegenwart zurechtfinden. Die Assistentin antwortete mir, dass es bis auf wenige Ausnahmen überhaupt keine Probleme gegeben hätte. Sie konnten ohne Schwierigkeiten wieder aufgetaut und wiederbelebt werden. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Erinnerung an ihr früheres Leben in den Sechzigern verloren gegangen war. Dies sei aber für die Forscher und die Probanden kein Problem. Einige mussten im Labor noch einige Zeit nachbetreut werden, anderen wurde ein Funkchip implantiert, um sie besser beobachten zu können. Alle führten ein ganz normales Leben, oft in Familien und viele von ihnen hätten Kinder.
Ich wollte die perfiden Einzelheiten und Umstände gar nicht erfahren, unter denen diese Menschen in das Labor gelockt wurden, um untersucht zu werden. Die meisten von ihnen hätten diese medizinische Überwachung gar nicht bemerkt und hatten keine Kenntnis davon, dass Psychologen und Verhaltens-forscher ihren weiteren Lebensweg beobachteten.
Ich war empört und sagte, dass ich solche Versuche vielleicht in einer Diktatur erwartet hätte, nicht aber in unserem Land. Sie antwortete ruhig, dass es diese Versuche auch in der DDR gegeben habe. Die Stasi hatte durch einen Doppelagenten von diesem Vorhaben erfahren, und so wurde auch in der DDR beschlossen, Jugendliche einzufrieren, um nicht hinter dem Westen zurück zu bleiben. Der BND wusste natürlich von diesem Vorhaben, und so konnten nach der Wiedervereinigung die beiden Forschungsinstitute problemlos zusammengeführt werden.
Ich fragte nach, ob denn keiner der Aufgetauten Erinnerungen an die frühere Zeit hätten. Sie verneinte das. Die Psychologen hätten aber einen seltsamen Hang bei ihnen bemerkt, Kleidungsstücke mit Stilelementen der Mode der Sechziger Jahre zu tragen. Sie hören auch oft Musik, die damals Beatmusik genannt wurde. Seltsamerweise träfen sie sich auch gerne in Clubs, in denen Platten aus dieser Zeit aufgelegt würden oder arbeiten selbst als DJ. Es habe den Anschein, dass sie sich unbewusst gegenseitig erkennen. Einige von ihnen würden ein Instrument spielen. Meistens Gitarre, Orgel, Schlagzeug oder Blasinstrumente, seltener Geige oder Blockflöte. Meistens würden sie dann die Songs aus der Zeit spielen, in der sie eingefroren wurden. Viele von ihnen ließen sich auch die Haare etwas länger wachsen. Ich fragte die Assistentin, ob sie in dem Musikclub, den wir letztens besuchten, einige Aufgetaute erkannt hätte. Sie bejahte das, ohne zu zögern.
In unser Gespräch trat eine Pause ein. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Als ob sie diese hätte lesen können, sagte sie nach einer Weile: “Du brauchst nicht zur Polizei zu gehen. Das Experiment ist beendet. Du hattest einen der letzten Behälter geöffnet, in dem sich noch eine Proband befand. Er ist aufgetaut.“
Ich sah sie eine Weile an. Sie hielt meinen Blick aus, senkte dann aber die Augen, nahm meine Hand und sagte nach einer Pause: “Du bist auch ein Aufgetauter.“
„Wie?“, fragte ich laut: „Ich auch?“ Der Kellner und einige Gäste sahen zu uns herüber.
Sie drückte meine Hand und sagte kaum hörbar: „Ja, ich hatte dich erwartet. Ich war dabei, als du reanimiert wurdest und ich wusste schon damals, dass du eines Tages hinter das Geheimnis kommen würdest.“
„Aber ich bin doch viel älter als die anderen Aufgetauten.“, entgegnete ich.
„Ja“, sagte sie „Das ist richtig. Bei dir hat der Mechanismus versagt. Du warst der jüngste Proband, den man damals eingefroren hatte. Du warst noch nicht einmal volljährig. Man entdeckte später bei einer Routinekontrolle, dass du im Behälter trotz Kühlung weiter gealtert bist. Somit warst du für die Wissenschaftler besonders interessant. Du warst der Erste, den man dann aufgetaut hat. Ich habe dich in den Wochen danach solange betreut, bis du bereit für ein normales Leben warst.“
Ich war schockiert und saß eine Weile bewegungslos am Tisch, stand dann aber auf, nahm automatisch einen Geldschein aus dem Portemonnaie, gab ihn dem Kellner und ging hinaus.
Draußen atmete ich die Abendluft tief ein. Nach Stunden des Umherirrens fand ich mich in einem Stadtviertel wieder, das mir seltsam vertraut vorkam. Ich versuchte mich zu erinnern. Hatte ich hier meine Jugend verbracht?
Ich dachte nach.
Deshalb mein Hang, alte Autos zu fahren. Daher meine Vorliebe für Schallplatten und alte Röhrenverstärker.
Es wurde hell, als ich auf einer Parkbank wieder zu mir kam. Die Bäume, die Wiese um mich herum. Hatte ich hier als Kind gespielt?
Ich ging nach Hause und schlief vor Erschöpfung ein.
Am nächsten und auch am übernächsten Tag ging ich nicht zur Polizei. Mein Leben normalisierte sich wieder, und ich tat die gewohnten Dinge.
Seit diesen Erlebnissen sind jetzt schon Jahre vergangen, und vielleicht hätte ich nie darüber gesprochen. Ich glaube aber, dass die NikaKult-Leser verständnisvoll, offen und tolerant genug sind, dieses Geheimnis mit mir zu teilen.
Es gibt noch einen letzten Teil, den ich für Abraham aufschreiben werde, um ihm zu erklären, wie man die Aufgetauten erkennt.